Aus dem Russischen von Alfred Frank und Werner Kaempfe. — Berlin: Volk und Welt, 1989. — 460 S.
Einen neuen, den eigentlichen Platonow erschloß uns die Neusicht und Bewältigung der eigenen Geschichte in der Sowjetunion. »Die Baugrube« (1929/30) erschien 1987 in der Moskauer Zeitschrift »Nowy mir«, »Das Juvenilmeer« (1934) 1986 in der Zeitschrift »Snamja«. Verwundert fragt Jewgeni Jcwtuschenko nach Erscheinen der großen Frühromane Platonows über das »Jahr des großen Umschwungs« 1929, über die Widersprüche, Tragödien und Perspektiven der Stalinschen Industrialisierung und Kollektivierung unter der Losung des »verschärften Klassenkampfes« und des »Sieges an allen Fronten«: »Wie war es Platonow möglich, schon in den zwanziger Jahren all das zu verstehen, was unsere Gesellschaft erst jetzt zu begreifen beginnt, und auch das nur sehr mühsam? Das war eine ebensolche Großtat wie wenn einer, der sich mitten im Scheiterhaufen befindet, den brennenden Reisig und jene, die diesen hineinwerfen, analysiert und letztere auch noch wegen ihrer ›heiligen Einfalt‹ bemitleidet... Das Phänomen Platonow besteht darin, daß er durch den Wirbel der Losungen mit Aufrufen zu utopischen Hauruck-Aktionen in den zwanziger Jahren das blutige Jahr siebenunddreißig vorhersah... Hinsichtlich der Kraft seiner historischen Voraussicht ist Platonow wohl nur mit Dostojewski vergleichbar... Platonows Prosa ist eine Vorwarnung... Die Stimme Platonows wurde nicht rechtzeitig als Sturmglocke gehört. Die sozial-utopische Psychose schlug in menschliche Taubheit um. Es gibt Sturmglocken, die zunächst nicht gehört werden, aber vor potentiellen Bränden in der Zukunft warnen können... Unsere Einsicht kommt ziemlich spät, dennoch erkennen wir glücklich, daß es sogar in den allergrausamsten Jahren Menschen gab, die sich der Massenpsychose entgegenstellten... Platonows Prosa war Glasnost vor Glasnost. Die Sturmglocke, die nicht rechtzeitig gehört wurde, kann eine Sturmglocke für alle Zeiten werden...«
Für alle Zeiten gültig ist die zeitgeschichtliche künstlerische Analyze Platonows nicht zuletzt deshalb, weil er sie an den Erfahrungen der Menschheitsgeschichte seit biblischen Zeiten mißt und in seiner Neusicht der großen weltliterarischen Modelle, vor allem auch von Goethes »Faust«, polemisch verallgemeinert. Rigoros stellt Platonow die Emanzipation der Erniedrigten und Beleidigten, der Lemuren, der Arbeitssklaven des Goetheschen Mephisto, in den Mittelpunkt seiner Suche nach einer sozialistischen Faust-Alternative. Die Baugrube entwirft der Utopist Pruschewski, um dem Weltproletariat und den kollektivierten Bauern ein »ewiges Haus« zu errichten. Aber auch diese Grube wird zum Grab. Die modernen Faust-Typen im »Juvenilmeer« glauben, dem Zeitgeist entsprechend, Technik und Wissenschaft könnten alles entscheiden. Und Tschagatajew in der neuen Menschheitsparabel »Dshan« (1933-35) – hier erstmals vollständig in Deutsch vorgelegt – muß, nachdem er sich selbstlos als ein sozialistischer Prometheus, Moses und Faust gemüht hat, begreifen, daß die Elenden sich nur selbst erlösen können.
Wie Andrej Bitow 1987 schrieb, erweist sich Andrej Platonow (1899-1951) »als ein merkwürdig uneinfacher Schriftsteller, weil er der erste war, der wirklich alles verstanden hat. Alles verstanden, und zwar von innen und nicht aus dem entgegengesetzten Lager, von innen hat er das erfaßt, und tiefer erfaßt als jene, die sozusagen auf den Positionen der Kultur, der Intelligenz und des Vergangenen standen. Weil er nicht die Unterschiede erfaßte, sondern das Ganze.«